«Die Baubranche muss mutiger werden»

Autarke Wohnformen und kreislauffähige Häuser sind längst erfunden – und dennoch tut sich ein Grossteil der Bauherren noch schwer, alte Muster hinter sich zu lassen und mit dem nachhaltigen Bauen ernst zu machen. Wo der Schuh drückt, erklärt Experte Stephan Wüthrich. 

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Prof. Stephan Wüthrich unterrichtet nachhaltiges Bauen an der Berner Fachhochschule BFH und leitet den Bereich Bauingenieurwesen. © zVg

Stephan Wüthrich ist technischer Sekretär eines Nachhaltigkeitsstandards (SNBS*), der von öffentlichen Bauherrschaften vom Bund für Infrastrukturbauten verwendet wird. Im Interview erzählt der Professor, wo es in der hiesigen Baubranche in Sachen Kreislaufwirtschaft voran geht und wo es noch hapert.

Herr Wüthrich, Ende Juni 2023 haben sich zwölf grosse Player im Schweizer Bauwesen öffentlich zur Kreislaufwirtschaft bekennt. Geht es nun endlich vorwärts im Bereich des nachhaltigen Bauens?

Diese Charta ist eine gute Sache und kann effektiv etwas «bewirken». Vorausgesetzt, die AkteurInnen setzen die Leitsätze dann auch um oder nehmen sie in ihre Strategie auf.

Woran scheiterten ähnliche Bemühungen bisher oft?

Die Kompetenzen sind in der Branche vorhanden, werden jedoch nicht immer «abgerufen» oder von den Bauherrschaften «bestellt». Die Branche orientiert sich stark am «Stand der Technik», welcher in einem umfassenden Normenwerk über Jahre erarbeitet und weiterentwickelt wurde. Auch die gesetzlichen Vorgaben tragen zur aktuellen Situation bei.

Ohne neue gesetzliche Vorgaben werden wir Netto-Null kaum erreichen.

Auch orientieren sich v.a. private Bauherren immer noch stark an der wirtschaftlichen Dimension, konkret an der Rentabilität einer Immobilie. Die öffentlichen Bauherren gehen bezüglich nachhaltigem und zirkulärem Bauen oft mit gutem Beispiel voran.

Müsste die Baubranche also subventioniert werden, damit finanzielle Verluste in Kauf genommen werden können, um neue Methoden auszuprobieren?

Es braucht vor allem mehr Mut, neue Wege zu gehen und den Stand der Technik (und damit die Normen) auch einmal kritisch zu hinterfragen. Mut, Kriterien zur Nachhaltigkeit einzufordern und auch entsprechend zu gewichten. Nachhaltigkeit zahlt sich aus, konkret eine etwas höhere Investition zu Beginn (also beim Planen und Bauen) zahlt sich über den Lebenszyklus betrachtet zurück – aber diese «Vorinvestition» gilt es zu tätigen.

Welche gesetzlichen Richtlinien könnten helfen, den Prozess in Richtung Kreislaufwirtschaft zu beschleunigen? 

Grundsätzlich haben wir mit dem neuen öffentlichen Beschaffungsrecht ausreichende gesetzliche Vorgaben und auch mehr Möglichkeiten, die Nachhaltigkeit stärker einzufordern. Da fehlt eher etwas die «Umsetzungspraxis» und viele Bauherren und Planende wollen in der öffentlichen Beschaffung keine unnötigen Risiken eingehen. 

Wenn wir jedoch von Energiewende sprechen und bis 2050 Netto-Null anstreben, wird es aus meiner Sicht ohne neue gesetzliche Vorgaben kaum gehen. Das neue Kreislaufwirtschaftsgesetz des Kanton Zürich ist da ein gutes Beispiel.

Welches Potenzial sehen Sie in nachhaltigen Baustoffen?

Jeder Baustoff hat seine Berechtigung und sollte primär aufgrund der funktionalen Anforderungen ausgewählt werden. Zu oft stehen das Aussehen und der Preis im Vordergrund. 

Beispiel Infrastrukturbau: Brücken mit grossen Spannweiten oder grosse Infrastrukturbauten (z.B. Kraftwerke) mit langer Lebensdauer (>100 Jahre): da kommt eigentlich nur Beton oder allenfalls Stahl in Frage.

Der oft kritisierte Beton wird quasi zu 100% aus regionalen Ressourcen hergestellt.

Beispiel Hochbau: Neubau oder Aufstockung eines Mehrfamilienhauses: da hat Holz aufgrund seiner Eigenschaften (wie z.B. Leichtbauweise, Vorfabrikation) oft sehr gute Voraussetzungen. Oft entstehen heute jedoch sogenannten Hybridbauten, Untergeschosse in Beton (da mit dem Erdreich in Berührung), Obergeschosse werden dann mit einer Holzkonstruktion ausgeführt. Allerdings stammt ein Grossteil des Bauholzes aus dem Ausland. Der oft aus Umweltgründen kritisierte Beton hingegen wird quasi zu 100% aus regionalen Ressourcen hergestellt (inkl. Zementproduktion) und führt damit auch zu entsprechender regionaler Wertschöpfung. 

Interessant sind auch «alte Baustoffe» wie Stampflehm oder der Einsatz von regional verfügbaren Rohstoffen wie Terrabloc. Auch in der Betonindustrie werden Anstrengungen unternommen die Umweltbilanz der Baustoffe laufend zu verbessern.

*Das Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz (NNBS) bringt Unternehmen, Institutionen und Behörden zusammen, um den Austausch rund um nachhaltiges Bauen zu fördern. So wurden Standards für nachhaltiges Bauen (SNBS) etabliert, welche als Richtschnur und Hilfsmittel für Bauherren und Investoren dienen. Öffentliche Bauherrschaften nutzen den SNBS Infrastruktur bereits für ihre Infrastrukturprojekte. Die Beurteilung erfolgt anhand von 29 Kriterien, die von Ressourcen und grauer Energie bis hin zu sozialen und städtebaulichen Themen reichen. Gebäude hingegen können bereits seit 1998 nach MINERGIE oder seit 2016 auch nach SNBS Hochbau zertifiziert werden.

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