Marie Seidel: «Fühlte mich noch nie so sehr am richtigen Platz»Jahrelang hat Marie Seidel für Umweltorganisationen gearbeitet – zuletzt war sie beim WWF. Doch irgendwann konnte sie nicht mehr zusehen, und klebte sich auf die Strasse.Nur ein Tag nach dem JA zum Klimagesetz in der Schweiz hat sich Marie Seidel in Zürich auf eine stark befahrene Strasse geklebt. © Renovate Switzerland Irene Müller Merken Marie Seidel hat sich vollkommen dem zivilen Ungehorsam verschrieben. Die ehemalige Kommunikationsberaterin erklärt im Interview, was sie sich von den Klimaprotesten verspricht, wie sie reagiert, wenn jemand Bekanntes in die Ferien fliegt und weshalb sie sich gezwungen sah, ihren alten Beruf für die Arbeit bei Renovate Switzerland aufzugeben. Aktionen nach der Klimagesetz-Abstimmung: Trotz «JA» zum Klimagesetz: Renovate Switzerland macht weiter Trotz «JA» zum Klimagesetz: Renovate Switzerland macht weiter Renovate Switzerland fordert die thermische Sanierung von sämtlichen Gebäuden in der Schweiz. Genau das wird unter anderem durch das neue Klimagesetz subventioniert. Doch anstatt euch nun mal eine Pause zu gönnen, habt ihr eure Protestaktionen noch intensiviert. Weshalb? Das Klimaschutzgesetz ist ein wichtiger Schritt. Doch 200 Millionen pro Jahr reichen nicht aus, um die 900’000 Gas- und Ölheizungen der Schweiz rechtzeitig zu ersetzen. Zudem erfordert die Dekarbonisierung des Gebäudesektors viel mehr Massnahmen als nur Isolierung und den Ersatz von Heizungen. Ein Moratorium für Abriss und Neubau ist zum Beispiel unerlässlich. Ich frage mich, wo beim Bund die Prioritäten liegen. Und schliesslich: Wenn der Bund einerseits 2 Milliarden für den Klimaschutz ausgibt und 5 Milliarden andererseits für den Ausbau der Autobahn frage ich mich, wo die Prioritäten liegen. Renovate fordert den Bundesrat auf, einen Notfall-Plan für die thermische Sanierung aller Gebäude bis 2030 vorzulegen. Und, hat er sich bei euch gemeldet? Wir haben zwei Mal eine Antwort vom Bundesrat bekommen. Zusammengefasst hiess es, dass Massnahmen schon im Gange sind. Ihr fordert nicht nur Sofortmassnahmen in der Baubranche, sondern einen allgemeinen, nationalen Klimanotstand. Was versprecht ihr euch davon? Der Bundesrat hat mehrmals gezeigt, wie er handelt, wenn er eine Krise ernst nimmt. Ich denke zum Beispiel an die Corona-Krise oder an die Rettung der Crédit Suisse. Ähnliche Massnahmen und Mittelbeschaffung gibt es für die Klimakrise nicht. Dies, obwohl es sich um die grösste Krise der Menschheitsgeschichte handelt. Diese Beispiele haben aber auch gezeigt, dass sich in der Schweiz gegen extreme Massnahmen auch immer grossen Widerstand formiert. Habt ihr keine Angst davor, Unruhe zu stiften und damit letztlich vielleicht das Gegenteil zu bewirken? Die aktuelle Klimapolitik der Schweiz führt uns direkt in den Abgrund und ja, davor habe ich sehr Angst. Die Vision hinter Renovate Switzerland ist eine Gesellschaft, in der das Klima stabilisiert ist und Leben gerettet werden. In der alle nach vorne schauen und überzeugt sind, für das Gemeinwohl handeln zu können. Gewaltfreiheit ist dabei stets der Eckpfeiler unseres Ansatzes. Marie Seidel (ganz rechts) mit anderen Klimaaktivisten am Tag nach dem JA zum Klimaschutzgesetz. © Renovate Switzerland Wie gehst du damit um, wenn jemand aus deinem Bekanntenkreis in die Ferien fliegt? Meine Familie und Freunde wissen, dass ich seit Jahren nicht mehr fliege. Ich fliege nicht mehr, weil ich es nicht mehr verantworten kann. Oft erwarten sie von mir eine Verzeihung für ihre «Sünde». Als wäre es mein Problem, nicht ihr, nicht unser. Es macht mich traurig, dass sie nicht merken, dass sie sich und ihrer Familie selbst schaden, wenn sie fliegen. Dass es ein Problem auch für sie, für uns alle ist, nicht nur für mich. Dass wir alle im gleichen Boot sind. Und dass dies zu kentern droht. Kürzlich sorgte Max Voegtli von Renovate Switzerland mit seinem Mexiko-Flug für landesweites Kopfschütteln. Solltet ihr nicht eine Vorbildrolle einnehmen in Sachen klimafreundliches Handeln, wenn ihr das schon von anderen verlangt? Sich politisch gegen die Klimakrise zu engagieren, geht oft damit einher, das eigene Leben umzustellen. Das ist bei mir der Fall gewesen, denn ich finde das tatsächlich wichtig. Und ich kann die negativen Gefühle nachvollziehen, die beim Verhalten von Max ausgelöst wurde. Mir ging es auch so. Gleichzeitig ist die Vorbildrolle für mich keine Voraussetzung, um aktiv zu werden. Und es beeinflusst auch nicht, wie richtig oder falsch unsere Forderungen an die Regierung sind. Mein Handeln stimmt endlich mit dem Ernst der Lage überein. Euer erklärtes Ziel ist es, 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung für Renovate Switzerland zu gewinnen. Weshalb diese Zahl? Gewaltfreie Aktionen dienen dazu, den Status Quo in der Gesellschaft zu hinterfragen. Jede:r wird dazu gebracht, zu diesem Problem Stellung zu beziehen. Es wird zu einem Thema auf der öffentlichen und folglich auch auf der politischen Agenda. Bis wir zu einem gesellschaftlichen «Tipping Point» kommen. An jenem Punkt, an dem das, was als normal galt (weiterhin Öl und Gas zu verbrennen zum Beispiel), als völlig abnormal gilt. Und umgekehrt. Bereits eine kleine aktive Minderheit reicht aus, um dies zu bewirken. Die meisten erfolgreichen gewaltfreien Bewegungen haben weniger als 3,5% der Bevölkerung mobilisiert. Wir setzen symbolisch auf 1% der Bevölkerung und damit sagen wir auch: Es ist machbar, es liegt in unserer Macht, das Ruder herumzureissen. Vor Renovate Switzerland hast du beim WWF gearbeitet, einem der grössten Umweltorganisationen der Welt. Bist du der Ansicht, dass man mit zivilem Widerstand mehr erreichen kann als durch Information und Aufklärung? Beide Ansätze sind wichtig und komplementär. Die Arbeit, die ich für die Schweizer Klimapolitik beim WWF geleistet habe, erachtete ich als sehr wichtig. Doch ich habe mich noch nie so sehr am richtigen Platz gefühlt wie heute. Weil mein Handeln endlich mit dem Ernst der Lage übereinstimmt. 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