«Die Schweiz wird beim Naturschutz abgehängt»

Während die Schweiz in Sachen Artenschutz schon jetzt hinterherhinkt, setzt sich die EU mit dem neuen Renaturierungsgesetz weitere ambitionierte Ziele zur Förderung der Biodiversität. Wir haben mit dem Geschäftsführer von BirdLife Schweiz Raffael Ayé über das kontroverse Thema gesprochen.

ein Mann mit Feldstecher steht am Seeufer
Der Geschäftsführer von BirdLife Schweiz Raffael Ayé sieht, wie immer mehr heimische Vogelarten auf der Schweizer Landkarte verschwinden. © R. Ruis

Die Schweiz steht vor einer ernüchternden Bilanz: Der Anteil der Arten, welche gefährdet sind und damit auf der Roten Liste stehen, sind (Stand 2023) fast ausnahmslos höher als in allen unseren Nachbarländern. Trotz einer höheren Bevölkerungsdichte weist sogar Deutschland bessere Werte auf.

Grafik zeigt, dass Brutvögel, Reptilien, Amphibien und Süsswasserfische mehr gefährdete Arten vorweisen in der Schweiz, wie im Ausland
Anteil gefährdeter Arten in der Schweiz im Vergleich zu angrenzenden Ländern. © BAFU 2023

Diese Entwicklung in der Schweiz wurde nicht nur von Umweltorganisationen, sondern auch schon von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kritisiert. Der Geschäftsführer von BirdLife Schweiz sieht dringenden Handlungsbedarf. Wir wollten von Raffael Ayé wissen, wie das Bild der fortschrittlichen Schweiz mit dem versäumten Thema des Artenschutzes zusammenpasst.

Herr Ayé, wie kann es sein, dass die Schweiz stärker als ihre Nachbarn an Artenschwund leidet, obwohl sie im internationalen Vergleich so strenge Richtlinien in der Landwirtschaft aufweist?  

Macht die Schweiz auf der landwirtschaftlichen Fläche wirklich mehr als der Rest Europas? Gerade die Arten des Landwirtschaftsgebiets wie das Rebhuhn, der Steinkauz oder das Braunkehlchen sind in der Schweiz besonders stark bedroht. Sie sind in den Roten Listen überproportional vertreten. In der Schweiz ist die Stickstoffbelastung sehr hoch. Auch der Pestizideinsatz ist hoch, insbesondere im Vergleich zu Österreich, das ähnlich wie die Schweiz eine grasland-lastige Landwirtschaft hat.

Was fordern Sie konkret von der Politik?
Von Politik und Behörden fordert BirdLife erstens mehr Ehrlichkeit: die Ehrlichkeit, den sehr schlechten Zustand der Biodiversität in der Schweiz und das Nicht-Genügen der bisherigen Massnahmen anzuerkennen. Und die Ehrlichkeit auch, dass die vom Bundesrat 2012 beschlossene Strategie Biodiversität Schweiz mit Massnahmen, die realistischerweise zur Erreichung ihrer Ziele führen können, ernsthaft umgesetzt wird.

Die vom Bund formulierten Massnahmen des Aktionsplans Biodiversität

  • Direkte Förderung der Biodiversität (Weiterentwicklung ökologische Infrastruktur, Artenförderung)
  • Das Schlagen von Brücken zwischen der Biodiversitätspolitik des Bundes und anderen Politikbereichen (z. B. Landwirtschaft, Raumplanung, Verkehr, wirtschaftliche Entwicklung)
  • Die Sensibilisierung von Entscheidungsträger/innen und der Öffentlichkeit für die Wichtigkeit der Biodiversität als unsere Lebensgrundlage

Und zweitens die Übernahme von Verantwortung für die Biodiversität, die Lebensgrundlage für uns und für zukünftige Generationen. Ohne Biodiversität keine Bestäubung von Früchten und Gemüse, ohne Biodiversität viel weniger Bodenfruchtbarkeit, mehr Erosion und Überschwemmungen, keine Erholung in der Natur.

Ein neues EU-Gesetz zur Wiederherstellung von Ökosystemen auf 20% der gesamten Land- und Meeresfläche bis 2030 steht kurz vor der Verabschiedung durchs Parlament. Würden wir damit in Sachen Natuschutz endgültig von unseren Nachbarn abgehängt? 

Ja, denn in der Schweiz herrscht beim Schutz der Biodiversität Stillstand. In den letzten zehn Jahren sind kaum neue Schutzgebietsflächen dazugekommen. Für Politik und Behörden scheint die Wiederherstellung von Ökosystemen schlicht kein Thema zu sein. Aber gerade in der Schweiz, wo so viele Lebensräume und Ökosysteme zerstört wurden, muss die aktive Wiederherstellung von Ökosystemen dringend angepackt werden!

Wie viel Platz sollten Ihrer Meinung nach Schutzgebiete in der Schweiz einnehmen? 

Es geht nicht in erster Linie um einen Flächenanteil. Mindestens ebenso wichtig ist eine hohe ökologische Qualität und die geeignete Lage von Schutzgebieten.

Ohne intakte Ökosysteme ist die Anpassung an den Klimawandel viel schwieriger.

Zudem ist die Frage, was alles zu den Schutzgebieten gezählt wird. Wildnisgebiete, in denen der Mensch keinerlei Nutzung ausüben soll, braucht es nur wenige Prozentpunkte. Klar ist, dass die heute vorhandenen 10% sowohl flächenmässig zu wenig als auch qualitativ noch zu wenig gut sind. Hier braucht es den politischen Willen und die Ressourcen, um bestehende Schutzgebiete qualitativ aufzuwerten, degradierte Ökosysteme wiederherzustellen und die fachgerechte Pflege sicherzustellen.

Was sind die Folgen, wenn wir in der Schweiz beim Status Quo bleiben?

Wenn wir unsere degradierten Ökosysteme nicht wiederherstellen und hier der EU und anderen Ländern weltweit nicht folgen, wird der Klimawandel umso stärker ausfallen. Ohne intakte Ökosysteme ist die Anpassung an den Klimawandel viel schwieriger. Und Ökosystemleistungen wie Bestäubung und Schutz vor Erosion werden bei weiter abnehmender Biodiversität ebenfalls gefährdet.

Dabei zeigen Studien, dass sich Investitionen in den Schutz der Natur wirtschaftlich lohnen. Die EU schätzt, dass pro investierten Euro zwischen 8 und 38 Euro an wirtschaftlichem Wert generiert werden können. Naturschutz ist also nicht ein Gegensatz zur Wirtschaft sondern eine Notwendigkeit für letztere!

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