Tiere aus Tierliebe essen? Ein Kommentar zum SZ-Essay

29.04.2022 – «Wer Tiere liebt, sollte sie essen» lautet der Titel eines kürzlich in der Süddeutschen Zeitung (SZ) erschienenen Essays. Auf Instagram erntete die SZ für diese gewagte Schlagzeile einen Shitstorm – nicht ohne Grund. Ein Kommentar.

Eine braune Kuh schaut aus der HErde
Tiere essen, damit sie leben können – eine steile These. © Subtle Cinematics / Unsplash

In den vergangenen Tagen machte ein SZ-Essay seine Runden und sorgt vor allem auf Instagram für Kritik. Die Kommentare unter dem entsprechenden Post reichen von «Habe mich noch nie so über einen Artikel geärgert» bis «Dann iss doch dein Haustier».

Ganz klar – wenn es um Fleischverzehr geht, kollidieren zwei emotionale Welten miteinander. Doch die Argumentation, mit der die Autorin den heutigen Konsum tierischer Produkte zu rechtfertigen versucht, ist weder zeitgemäss noch entspricht er der Realität der Fleischindustrie.

Von Leid und Glück

Eine Welt, in der nur Vegetarierinnen und Veganer leben würden, wäre eine andere. So weit kann ich der Autorin folgen. Doch dann nimmt ihre These eine Abbiegung ins Abstruse: Es wäre keine gute Welt. «Denn wer Leid verhindert, indem er Leben verhindert, verhindert auch Glück.»

Das Leid tausender Nutztiere zu rechtfertigen mit dem Argument des noch grösseren «Leids durch Nichtexistenz» erinnert dunkel an die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche. Wenn dem Argument, Leid zu verhindern, der Wind aus den Segeln genommen wird, kann keine Debatte mehr stattfinden. Dann sind auf einmal jene, die Leid verhindern möchten, die Leidverursachenden.

Würden wir keine Nutztiere essen, gäbe es keine Nutztiere

Dass die Autorin nicht viel von Veganerinnen und Vegetariern hält, liest man schon in den ersten Zeilen heraus. Sie würden sich moralisch überlegen fühlen und nicht weit genug denken. Das begründet sie mit einer Argumentationskette, bei der schon das erste Glied nicht so richtig verhalten will: «Es gäbe kaum noch Nutztiere, die man bewundern und streicheln und denen man in die Kulleraugen sehen kann.» Eine traurige Welt.

Aber nicht nur für den Menschen, sondern auch fürs Nutztier selbst sei das ein grosser Verlust. Denn Fleischverzicht verhindere Glück. Das Glück jener sogenannten Nutztiere, die «ordentliches Futter» und «genug Platz und Sonne» bekommen und die geschlachtet werden, «ohne dabei allzu viel Angst und Schmerz zu erleiden.»

Die Illusion von glücklichen Nutztieren

Wir reden hier also ausschliesslich von glücklichen Tieren. Nur, dass das klar ist.

Schliesslich kann bei der Massentierhaltung von Glück wohl kaum die Rede sein. Das betont die Autorin selbst. Trotzdem kommt sie immer wieder auf die glücklichen Nutztiere zurück, um deren Glück und Existenz wir sie brächten, wenn alle plötzlich auf Fleisch verzichten würden.

Nur diese glücklichen Tiere finden einen Platz in ihrer Argumentation. Laut der Autorin sollte man selbstverständlich keine «misshandelten» Tiere essen. Doch spätestens hier geht das Ganze nicht mehr auf. Denn von den 80 Millionen Nutztieren, die in der Schweiz jedes Jahr geschlachtet werden (in Deutschland sind es deutlich mehr), hatten die wenigsten ein glückliches Leben auf saftig grünen Weiden.

Sollten alle Kühe und Legehennen, die zu diesem Zeitpunkt dicht an dicht in Hallen ihren eigenen Dung plattstehen, auf einmal «glückliche» Tiere im Freien werden, bekämen wir ein echtes Platzproblem (um nicht zu sagen Dichtestress). Der aktuelle Hunger unserer Bevölkerung auf Fleisch liesse sich dann nicht mehr – und schon gar nicht zu aktuellen Preisen – stillen.

Entweder Fleischindustrie oder gar keine Tiere mehr?

Die Autorin zeichnet in ihrem Artikel ein Bild von zwei sich widersprechenden Welten: Eine, in der wir Tiere lieben und sie deshalb essen und eine, in der sich alle vegan ernähren und es keine Nutztiere mehr gibt, sondern in der wir nur noch «an tristen Wiesen vorbeifahren, auf denen Sonnenkollektoren stehen.»

Eine Welt ohne Massentierhaltung wäre tatsächlich eine, in der weniger Tiere leben. Gleichzeitig wäre es eine, in der wir respektvoll mit den Tieren umgehen – seien es nun Nutztiere, Haustiere oder Wildtiere. Und dafür müssten nicht alle gleich zu Veganerinnen und Veganern werden.

Info: Dass der SZ-Essay zur Diskussion anregt, liegt auf der Hand. Daher lädt die Süddeutsche Zeitung online zum Mitreden ein.

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