«Wir müssen Abfall als Ressource statt als Wegwerfware begreifen»

Am 3. Mai 2012 sprach der Experte für nachhaltige Stadtentwicklung Steffen Lehmann auf dem Liechtenstein Kongress für nachhaltige Entwicklung über unsere Städte der Zukunft. nachhaltigleben beantwortete er bereits vorab einige Fragen dazu, warum Städte nachhaltiger werden und sich zur «Zero-Waste-City» entwickeln müssen.

Steffen Lehman, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Nachhaltige Stadtentwicklung in Asien und der Pazifikregion.
Steffen Lehmann, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Nachhaltige Stadtentwicklung in Asien und der Pazifikregion. Foto: Privat.

Herr Lehmann, wie muss eine Stadt angelegt sein, die ohne Abfall auskommt?

Die sogenannte «Zero Waste City» ist auf 100-Prozent Recycling und Rückgewinnung der Ressourcen ausgelegt. «Waste» bedeutet ja nicht nur Abfall, sondern auch Verschwendung ganz allgemein. Das bedeutet also, dass die zukünftige Stadt nichts verschwendet, sondern «waste» als Ressource versteht und alles gleich wieder nutzbar macht.

Welche Veränderungen wären nötig, um bestehende Grossstädte dorthin gehend anzupassen?

Neue Niedrig-CO2-Technologien und -Bausysteme für «grüne Gebäude» müssen in Zukunft vermehrt genutzt werden. Bestehende Stadtquartiere sollten aufgewertet, durchmischt und nachverdichtet werden. Die Begrünung von Dächern und das Einrichten von Grünzonen sind weitere wichtige Punkt, die umgesetzt werden müssen. Verändern muss sich auch unsere Konsumgesellschaft. Abfall darf nicht länger als wertlose Wegwerfware angesehen werden, sondern als Ressource, die wieder Verwendung findet. Nahrungsmittel müssen aus der Region bezogen und Versorgungsketten verkürzt werden.

Müsste man die Städte dafür von Grund auf neu planen?

Nein, das Ziel der «Zero Waste City» ist nicht, dass unsere Städte der Zukunft austauschbar sind und alle gleich aussehen. Das kulturelle Erbe einer Stadt und ihren individuellen Charakter gilt es zu bewahren. Der Neubau zählt zu den energieaufwendigsten Sparten der Produktion und des Verbrauchs überhaupt. Wir sollten eher die Mittel für die energetische Gebäudesanierung und Verbesserung des Baubestandes weiter erhöhen.

Wie realistisch ist es, dass ein Grossteil der bestehenden Städte irgendwann tatsächlich damit auskommt, keinen Abfall zu schaffen?

Es bleibt uns früher oder später gar nichts anderes übrig, als nachhaltiger zu werden. Um den Klimawandel einzudämmen, müssen wir das Recycling verbessern und den Abfall reduzieren. Die Frage ist daher nicht ob, sondern wie schnell wir handeln müssen, wenn wir zukünftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterlassen wollen. Recycling allein reicht hier natürlich nicht. Es bedarf zuallererst des Wandels unseres Konsumverhaltens und der Minimierung von Abfall, das heisst besseren Industriedesigns und langlebiger Architektur, sowie des Wandels der Herstellungsprozesse.

Ist die «Zero Waste City» trotzdem nicht eher ein realistisches Modell für neu zu planende Städte?

Natürlich ist eine Umsetzung bei neu entstehenden, wachsenden Städten einfacher, da man von Grund auf Nachhaltigkeit in das Stadtkonzept integrieren kann. Wir werden aber nicht darum herum kommen auch bei bestehenden Städten einen Wandel zu vollziehen. Der Grossteil unserer Städte existiert ja bereits. Selbst wenn heute Null-Abfall noch nicht umsetzbar ist, sollten wir trotzdem alles dafür tun, dass das Konzept früher oder später Realität werden kann. Abfall wird dabei als wertvolle Ressource angesehen, die nicht verbrannt oder vergraben werden darf, sondern vollständig der Wiederverwendung zugeführt wird. Der Materialverbrauch muss vom wirtschaftlichen Wachstum entkoppelt werden.

Gibt es bereits Städte, die diesem nachhaltigen Modell entsprechen?

Es gibt Ansätze und gute Beispiele solcher Städte und Regionen, zum Beispiel im Stadtteil Vauban in Freiburg und in Hammarby-Sjöstad in Stockholm. In Vauban wurde bereits vor fünf Jahren mit dem Bau von Plusenergiehäusern ein wichtiger Schritt in Richtung Nachhaltigkeit vollzogen. Und das «Hammarby-Modell» wurde weltweit zum Vorbild für umweltfreundliche Stadtentwicklung mit exzellenter Abfallentsorgung.

Welche Massnahmen müsste die Politik einleiten, um grossflächig eine solche nachhaltige Entwicklung voranzutreiben?

Die Zukunft der Menschen liegt in der nachhaltigen Stadt. Die Politik spielt dabei eine ganz zentrale Rolle. Nur mit der richtigen Führung und robusten Entscheidungsprozessen ist eine Stadtumwandlung möglich. Es ist wichtig, dass schnell Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine nachhaltige Entwicklung der Städte unterstützen. Die Politik ist gefordert, für Anreize zum Ausbau erneuerbarer Energien zu sorgen und durch Subventionen und Steuerbegünstigungen nachhaltige Konzepte zu fördern. Die integrierte Stadtentwicklung mit einem energetischen und klimabezogenen Schwerpunkt wird in der Zusammenarbeit mit der Politik eine Schlüsselrolle übernehmen, um den Energie- und Ressourcenverbrauch unserer Städte radikal zu reduzieren.

Was müssen die einzelnen Bürger dazu beitragen, damit eine Stadt ohne Abfall funktionieren kann?

Jeder einzelne Bürger sollte eine Vorbildfunktion in Sachen Nachhaltigkeit einnehmen. Wenn jeder sich im Kleinen für mehr Nachhaltigkeit engagiert, wird das auch im Grossen etwas bewirken. Oft sind lokale Stadtverwaltungen und Zivilgesellschaften den Landesregierungen weit voraus bei der Umsetzung CO2-reduzierender Massnahmen. Das zeigt, dass ein Mitwirken einzelner Bürger von grosser Bedeutung ist. Dabei sind die Politik, die Energieversorger, die Hochschulen und die Bürger gleichermassen gefordert.

Welche sonstigen Massnahmen sind noch wichtig?

Die Stadt von morgen muss mindestens die Hälfte ihres Energieverbrauchs selber herstellen. Plusenergiehäuser und -stadtteile sind hierzu erforderlich. Diese sind heute technisch kein Problem mehr, so dass nun die nächste Stufe des Stadtumbaus kommt: die Stadt selbst als Kraftwerk. Zudem ist die Elektromobilität wichtig, da sie den CO2-Ausstoss und Strassenlärm reduziert und es uns ermöglicht, die gesamte Stadt wieder natürlich zu belüften, so dass Balkone wieder zu den Strassen hin ausgerichtet werden können, und nicht von ihnen weg.

Zur Person:

Dr.-Ing. Steffen Lehmann, AA Dipl., ist Professor für enerieeffiziente Gestaltung an der Universität von South Australia in Adelaide und Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Nachhaltige Stadtentwicklung in Asien und der Pazifikregion; dort leitet er das Research Centre for Sustainable Design and Behaviour (sd+b). Seit 2006 ist er Herausgeber des Journal of Green Building. In den 90er Jahren hat er unter anderem an der Gestaltung des Potsdamer Platzes, des Hackeschen Markts sowie der Französischen Botschaft in Berlin mitgewirkt. Weitere Informationen und Publikationsliste unter www.slab.com.au/#_blank.

Forschungsschwerpunkte: Rapide Urbanisierungsprozesse asiatischer Städte; urbane Transformation zur Low Carbon City. Aktuelle Projekte: Stadtplanung Taree, New South Wales; Stadtplanung Mildura, Victoria; Beratung zur Stadtplanung Maribyrnong Defence Site, Melbourne; Hub-to-Hub Emerging Public Spaces, Singapore. Ausgewählte Veröffentlichungen:

  • Buch «Back to the City», Hatje Cantz Verlag (Stuttgart, 2009).
  • Buch «The Principles of Green Urbanism», Earthscan (London, 2010).
  • Buch «Designing for Zero Waste», Routledge (London, 2012).
  • Editor-in-Chief des «Journal of Green Building» (USA), seit 2006, fortlaufend.
  • Editor der Buchreihe «Earthscan Book Series Sustainable Design», Routledge,  

 

 

Der LISDAR auf einen Blick:

Der Liechtenstein Kongress fungiert seit 2008 als internationale Plattform für praxisbezogene Forschung. Im Mittelpunkt stehen intelligente Lösungsansätze aus den Bereichen «nachhaltige Entwicklung» und «Responsible Investment», die von verantwortungsbewussten Grundsätzen und Regelwerken geleitet werden.

In diesem Jahr wurden a) die Rolle von Stiftungen im Kontext des institutionellen Finanzsystems und verantwortungsvollen Investitionsmöglichkeiten beleuchtet, b) wirtschaftliche urbane und ländliche Systeme sowie Gebäude mit möglichst minimalem ökologischem Fussabdruck vorgestellt und c) nachhaltigkeitsorientierte Geschäftsmodelle und Prozessmodelle diskutiert.

Weitere Informationen zum Liechtenstein Kongress für eine nachhaltige Entwicklung finden Sie unter www.lisdar.li

 

 

Interview: Bianca Sellnow

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