«Angst ist ein erster notwendiger Schritt, um zu handeln»

Sie ist Sympathisantin von Renovate Switzerland und kennt das diffuse Gefühl der Klimaangst gut: Marie macht sich jeden Tag Sorgen um ihre Liebsten und ihre eigene Zukunft. Deshalb geht sie für eine striktere Klimapolitik auf die Strasse. Wie sich Klimaangst für sie anfühlt und wie sie daraus das Beste macht, verrät sie uns im Interview.

Sechs Demonstrierende von Renovate Switzerland blockieren eine Kreuzung
Die Demonstrierenden fordern die Regierung auf, zu handeln. © Renovate Switzerland

Zukunftssorgen kennen wir alle. Bei immer mehr Menschen drängt sich dabei die Angst um unseren Planeten und damit unsere Existenz in den Vordergrund. Laut Sorgenbarometer 2022 steht die Sorge um Klimawandel und Umweltschutz dieses Jahr an oberster Stelle in der Schweiz.

Das sieht man auch auf den Strassen: Klimaaktivistinnen und -aktivisten wie Marie von Renovate Switzerland greifen zu immer härteren Mitteln, um sich Gehör zu verschaffen. Dass sie sich an grossen Kreuzungen auf der Strasse festkleben, können viele nicht nachvollziehen. Wir möchten von ihr wissen, was ihr Antrieb ist und wie sie auf kritische Stimmen reagiert.

Wie würdest du das Gefühl der Klimaangst beschreiben?

Ich kann mir momentan keine schöne Zukunft vorstellen. Ich habe Angst um mich, um meine Familie und Kollegen. Ich habe Angst, Hunger zu haben, kein Dach über meinem Kopf zu haben, rund um mich nur noch Leid und Tod zu sehen. Wenn ich an die Zukunft meiner acht Nichten und Neffen denke, muss ich weinen. Es macht mir unglaublich traurig, mir ihre Zukunft vorzustellen.

Zum Begriff Klimaangst muss ich aber sagen, dass ich ihn nicht gut finde, weil Angst etwas Passives suggeriert. Dabei ist entscheidend, was man aus dieser Angst macht. Für mich ist sie ein erster notwendiger Schritt, um zu handeln.

Zur Person

Marie ist 34 Jahre alt und lebt in Zürich. Dieses Jahr entschied sie sich dafür, ihren Job zu kündigen und sich vollständig für die Kampagne Renovate Switzerland einzusetzen.

In welchen Situationen packt dich die Angst vor der Klimakrise besonders?

Die Angst kommt in unterschiedlichen Situationen hoch. Wenn ich zum Beispiel im Alltag innehalte und kurz nachdenke, weshalb ich mich engagiere und wieso mein Leben so geworden ist. Oder wenn ich meine Nichten und Neffen sehe. Wenn es draussen stürmt und ich weiss, dass das Wetter unberechenbarer geworden ist. Das sind Momente, in denen mich die Angst packt.

Klimaaktivismus wird von Teilen der Gesellschaft sehr kritisch gesehen. Wenn du einer kritischen oder gar empörten Person erklären musst, warum du bereit bist, dich auf der Strasse mit Leim zu befestigen, wie würdest du das in Worte fassen?

Ich hasse es, dass ich sowas tun muss. Ich hasse es, dass ich meinen Job kündigen und meine Träume aufgeben musste, nur weil unsere Regierung sich ihrer Verantwortung entzieht und die Bevölkerung der Schweiz noch immer nicht vor den katastrophalen Folgen der Klimakrise schützt. Leider drängt die Zeit und die anderen politischen Mittel, die mir zur Verfügung stehen, sind nicht schnell und wirksam genug. Ich kann nicht mehr passiv zuschauen, wie unser aller Leben zerstört wird. Ich muss alles unternehmen, was in meiner Macht steht, um diesen Wahnsinn zu stoppen.

Ich erwarte nicht, dass eine Mehrheit der Bevölkerung das gleich tut. Ich erwarte nicht, dass das alle gut finden oder mich mögen. Aber ich bin mir sicher, viele haben Angst vor der Klimakrise. Und ich möchte, dass jeder und jede sich zumindest die Frage stellt: Was bin ich bereit zu tun, um zu retten, was mir wertvoll und lieb ist?

Was hilft dir am besten, um gegen diese Besorgnis anzugehen? Wie gehst du mit Klimaangst um?

Mir hilft es, zu handeln. Seit ich mich Vollzeit für den Aufbau des zivilen Widerstands in der Schweiz engagiere, habe ich endlich das Gefühl, dass meine Beschäftigung der Krise gerecht wird. Dadurch gebe ich meinem Leben einen Sinn.

Mir hilft es auch, Menschen für den zivilen Widerstand zu mobilisieren. Es tut mir gut zu sehen, dass viele Menschen diese Angst teilen und nicht mehr passiv zuschauen wollen. Jede Person, die neu dazu kommt, gibt mir Mut und Kraft, weiterzumachen.

Denkst du, dass Klimaangst auch etwas Gutes sein kann?

Ich bin davon überzeugt, dass lauwarme Reden und Optimismus um jeden Preis kontraproduktiv und gefährlich sind. Denn es führt dazu, dass wir uns in Sicherheit wägen. Dass wir denken, jemand hat es im Griff.

Aber das ist nicht so. Unsere Regierung, unsere Politik: Niemand hat es im Griff. Erst, wenn wir Klartext über die Notlage, in der wir uns befinden, reden, können wir entsprechend handeln. Erst, wenn wir uns der Notlage stellen und verstehen, dass die Klimakrise alles bedroht, was uns lieb ist, finden wir auch den inneren Mut, zu handeln. Ja, es ist schlimm und es tut weh. Aber du, ich, wir alle können etwas tun. Aus dieser Klarheit kommt eine unglaubliche Stärke, die ich heute für kein Geld der Welt aufgeben würde.

Über Renovate Switzerland

Renovate Switzerland geht für eine zukunftsfähige Klimapolitik auf die Strasse. Selbst bezeichnet sich die Gruppe als zivile Widerstandskampagne und organisiert seit April 2022 regelmässige gewaltfreie Aktionen. Konkret fordert Renovate Switzerland, dass die Bundesregierung sofort 4 Milliarden Franken in die Ausbildung von zusätzlich 100'000 Personen in den Berufen der thermischen Gebäudesanierung investiert, um den CO2-Ausstoss der Schweiz effektiv zu senken. Mehr erfährst du auf renovate-switzerland.ch

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