Jacqueline Fehr: «Wir müssen Mass halten und das Hiesige pflegen»

Vor kurzem nahm Jacqueline Fehr an einer Diskussion mit dem bekannten Philosophen Peter Sloterdijk zum Thema «Müssen wir ganz neu denken?» teil. Im Interview mit nachhaltigleben.ch spricht sie darüber, welche Veränderungen es angesichts der vielseitigen Herausforderungen für Gesellschaft und Politik geben muss.

Jacqueline Fehr im Interview zur Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft.
Jacqueline Fehr, Quelle: jfehr.ch
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In der Reihe «Im Gespräch: Die Erde» lancierte das Theater Winterthur die Veranstaltung «Von Wachstum und Grösse» mit dem Philosophen Prof. Dr. Peter Sloterdijk. Im anschliessenden Gespräch, moderiert von Daniel Binswanger, stellte sich Sloterdijk zusammen mit Jacqueline Fehr, Dr. Eberhard von Koerber (Co-Präsident Club of Rome), Christian Hunziker (Präsident öbu.ch) und Julia Schaad (Studentin ETH Zürich) der Diskussion mit dem Titel «Müssen wir ganz neu denken?». nachhaltigleben.ch fragte jetzt bei Jacqueline Fehr zum Thema der Debatte nach.

Frau Fehr, Kann es überhaupt ein «Neues Denken» geben? Wenn ja, wie sollte es aussehen?

Wir müssen die Begriffe «Wachstum» und «Entwicklung» besser auseinander halten. Entwickeln wollen wir uns alle. Wir haben ein inneres Bedürfnis, «vorwärts zu kommen». Aber dieses Bedürfnis stillen wir nicht einfach mit «immer mehr» und «immer schneller».

Wie wäre ein derartiges Denken anschlussfähig und damit umsetzbar in der Schweizer Politik?

Dieses Denken muss sich in der Gesellschaft entwickeln und kann nicht an die Politik delegiert werden. Die Politik geht nicht voraus, sondern nimmt gesellschaftliche Entwicklungen auf und entwickelt dazu politische Fragen, über die entschieden werden kann. Eine typische Frage ist beispielsweise: Macht es Sinn, die Unternehmenssteuern ständig zu senken, wie das die bürgerlichen Parteien fordern, und damit immer mehr Unternehmen in die Schweiz zu locken, für die dann wiederum die Fachkräfte fehlen?

Bräuchte es zum Beispiel, ähnlich wie in Deutschland, eine Enquete-Kommission, die übergreifend nach neuen Wegen sucht?

Die Schweiz hat genügend Institutionen und Gremien, die solche Prozesse steuern und voranbringen können. Es fehlt nicht an den Strukturen, es fehlt an der gesellschaftlichen Diskussion, die den nötigen Druck auf die Politik entwickelt.

Was müsste sich in der Gesellschaft ändern, um ein «Neues Denken» zu bewirken?

Wir müssen bereit sein, die Spielregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Wirtschaftsordnung so festzulegen, dass umweltschonendes und –bewusstes Handeln belohnt und nicht wie heute mit höheren Preisen bestraft wird.

Oft wird von Seiten der Politik impliziert, neue Technologien alleine würden ausreichen, um die Nachhaltigkeit durch eine Steigerung der Ressourceneffizienz herbei zu führen. Stimmt das?

In den neuen Technologien liegt noch immer ein enormes Potential, zum Beispiel bei der Möglichkeit, Häuser zu bauen, die keine Energie brauchen, sondern solche abgeben. Dieses Potential müssen wir auf jeden Fall nutzen. Daneben gibt es aber eine Gesellschaftsordnung, die immer mehr auf Wettbewerb, auf Gewinner und Verlierer, auf immer mehr in immer weniger Zeit usw. ausgerichtet ist. Hier braucht es Korrekturen: Wir müssen wieder Mass halten und das Hiesige pflegen.

Frau Fehr, einer der grossen Pioniere der Nachhaltigkeit, Ernst Ulrich von Weizsäcker, sieht neben dem Faktor Technologie noch die Notwendigkeit zu Verhaltensänderungen. Halten Sie eine Selbstbeschränkung der Konsumenten für realistisch?

Es geht meines Erachtens nicht um Selbstbeschränkung, sondern um Freiheit und Genuss. ist es wirklich ein Verzicht, wenn wir das nächste Mal in der Quartierbeiz essen gehen, statt irgendeinem Modezwang folgend, eine In-Beiz nach der anderen abklappern?

Wenn eine nachhaltige Gesellschaft nur durch persönlichen Verzicht möglich würde, wie könnte eine derartige Verhaltensänderung erreicht werden?

Es geht eben nicht um Verzicht, sondern um das Wiedererlangen von Freiheit und Autonomie. Wer sich aus dem Konsum- und Aktivitätszwang löst, gewinnt.

Ein Umdenken würde wohl auch zu neuen Indikatoren für Wohlstand führen. Wie könnte ein derartiges neues Verständnis für Wohlstand aussehen?

Es gibt ja schon ganz viele neue Indikatoren wie zum Beispiel der ökologische Fussabdruck. Nebst der Ökologie müssen künftig Indikatoren wie psychische und physische Gesundheit der Menschen und das Wohlbefinden im sozialen Umfeld berücksichtigt werden.

Sind Sie Optimist oder Pessimist? Wenn wir aus dem Jahr 2100 auf heute zurück blicken, was werden wir über die heutige Zeit sagen?

Ich bin Optimistin. Die Gesellschaft und auch die Politik sind lernende Organisationen. Viele der Probleme sind neu und wir müssen tatsächlich zuerst herausfinden, wie wir damit umgehen sollen. Dabei wählen wir manchmal auch den falschen Weg, aber über kurz oder lang, mit mehr oder weniger Schmerzen korrigieren wir und ziehen die Lehren.

Jacqueline Fehr ist Vizepräsidentin der SP Schweiz, Nationalrätin für den Kanton Zürich in Winterthur und eine der profiliertesten Bildungs- und Familienpolitikerinnen der Schweiz.

 

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